1.3 Arbeitsgestaltung
Die Umsetzung eines solchen Leitbildes erfolgt über systematische Arbeitsgestaltung. Für diese Arbeitsgestaltung gibt es gute Gründe:
- Die tayloristische Arbeitsorganisation ist eine der Hauptursachen der Arbeitsbelastungen und -beanspruchungen im Call Center (vgl. Beutert & Heß 1999). Präventiver Gesundheitsschutz hat somit an der Arbeitsorganisation anzusetzen.
- Die geforderte Kundenorientierung und Servicequalität gerät in Widerspruch zu einer stark arbeitsteiligen Organisation, in der zwischen reinen Kurzauskünften und Datenerfassung (First Level) und qualifizierteren Aufgaben (Second Level) strikt getrennt wird, und Beschäftigte nur zum Telefonieren qualifiziert werden. Wenn die Betriebe mehr wollen als nur „Erreichbarkeit“, brauchen sie andere Strukturen.
- Vorhandene Qualifikations-, Entwicklungs- und Flexibilitätspotentiale der Beschäftigten können in der vorgegebenen Arbeitsorganisation nicht ausgeschöpft werden. Notwendige und mögliche Potentiale für eine Prozeß- oder Produktinnovation liegen im Zuwachs von Entscheidungskompetenzen und besseren Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, der Bündelung von interessanten und abwechslungsreichen Aufgaben und – damit verbunden – motivierten Beschäftigten; kurz: in einer beteiligungsorientierten Organibeteiligungsorientierten Organisations- und Personalentwicklung, die die Beschäftigten als beste Experten ihrer Arbeit akzeptiert.
Bei der Arbeitsgestaltung legen wir Kriterien und Merkmale einer menschengerechten Arbeitsorganisation aus der Arbeitswissenschaft (Tabelle 1-2) zugrunde. Ziel ist eine persönlichkeits- und gesundheitsfördernde Arbeit. Angemessen gestaltete Arbeitsaufgaben sollen:
- die Ausführung der Aufgaben erleichtern
- die Gesundheit und Sicherheit der Benutzer sicherstellen
- ihr Wohlbefinden fördern
- Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer Fertigkeiten und Fähigkeiten im Rahmen der Aufgabenstellung vorsehen.
Für eine menschengerechte Arbeitsgestaltung sind grundsätzlich folgende arbeitsorganisatorische Modelle zu unterscheiden.
- Job Enlargement:
Durch die (horizontale) Aufgabenerweiterung, z.B. Hinzunahme von Dokumentationstätigkeiten, Fax-, E-Mail- und SMS-Bearbeitung, Vorbereitung von Kampagnen oder Telefonprogrammierung sind für die Mitarbeiter Belastungswechsel und Qualifizierungen, für die Betriebe gleichmäßigere Kapazitätsauslastungen möglich.
- Job Enrichment:
Bei der (vertikalen) Aufgabenanreicherung werden planende, steuernde und kontrollierende Tätigkeiten wie Erstellung und Verbesserung von Gesprächsleitfäden, Auswertung von Statistiken, technischer Support, Personaleinsatz oder Coaching neuer Mitarbeiter in die Arbeitsaufgabe integriert. Handlungsspielräume der Agenten werden dadurch erhöht und Reibungsverluste abgebaut.
- Job Rotation:
Durch den zeitlich befristeten Wechsel in andere Tätigkeitsfelder (z.B. zwischen Inbound und Outbound, ins Back-Office, in Trainingsaufgaben) ergeben sich Chancen zur Personalentwicklung, Qualifizierung und zur Verbesserung der Kommunikationskompetenz der einzelnen Mitarbeiter.
- (zeitlich befristete) Projektteams:
Eine bereichsübergreifende Gruppe mit unterschiedlichen Qualifikationen löst durch selbstorganisierte Zusammenarbeit eine zeitlich befristete gemeinsame Aufgabe, wie Implementierung neuer Technologien, Qualitätszirkel, Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen ab.
- Teilautonome Gruppen:
Eine Gruppe von Agenten erhalten eine dauerhafte gemeinsame Aufgabe, deren Planung, Umsetzung und Kontrolle sie selbst steuern.
Tabelle 1-2: Merkmale guter und schlechter Gestaltung
Merkmale guter Gestaltung |
Merkmale schlechter Gestaltung |
Kriterium:
Handlungsspielraum/Autonomie
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Handlungsspielraum/Autonomie |
- Umfangreiche Aufgaben
- Bearbeitung muss erst geplant werden
- Aufgabe bietet Gelegenheit zur Anwendung aller Kenntnisse und Fähigkeiten
- Angemessene Arbeitsmenge
- grobe zeitliche Orientierung
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- jeder einzelne Arbeitsschritt ist festgelegt, wie er bearbeitet werden muss
- kein Ermessensspielraum
- zu große Arbeitsmenge, kurze Fristen
- Überstunden, Zeitdruck, Pausen durcharbeiten
- gezwungen sein Gespräche anzunehmen
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Kriterium:
Anforderungsvielfalt |
Anforderungsvielfalt |
- Häufig wechselnde, unterschiedliche Aufgaben
- Unterschiedliche Anforderungen an Körperfunktionen und Sinne
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- gleichförmige, immer wieder kehrende Aufgaben
- kurze Taktzeiten
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Kriterium:
Ganzheitlichkeit |
Ganzheitlichkeit |
- ganzheitliche Arbeitseinheiten
- Aufgabe enthält kontrollierende, planende und ausführende Elemente
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- es werden nur Bruchstücke eines Vorgangs bearbeitet
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Kriterium:
Kommunikation und Kooperation |
Kommunikation und Kooperation |
- Arbeit erfordert enge Zusammenarbeit mit anderen Stellen, in der Gruppe
- Information und Mitsprache
- Beteiligungsmöglichkeiten
- Soziale Rückendeckung von Vorgesetzten und Kollegen
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- isolierte Einzelarbeit ohne Gelegenheit zu sozialem Kontakt
- routinemäßige Weiterleitung von Aufträgen
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Kriterium:
Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten |
Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten |
- Die Aufgaben stellen Anforderungen an den Qualifikationserwerb
- Bereitstellung betrieblicher Weiterbildungsmöglichkeiten
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- routinemäßige Weiterleitung von Aufträgen
- keine Rückmeldung über Arbeitsvorgang
- keine Einarbeitungs- und Aufstiegsmöglichkeiten
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Alle aufgeführten Gestaltungsansätze vergrößern die Handlungs- und Entscheidungskompetenzen für die Beschäftigten. Während die Gestaltungsmaßnahmen a.) bis c.) auf der Ebene von Einzelarbeitsplätzen durch hinzukommende Arbeitsaufgaben realisiert werden können, verlangt die teilautonome Gruppenarbeit eine Reorganisation der bestehenden Arbeitsorganisation, d.h. eine Anpassung der betrieblichen Aufbau- und Ablauforganisation. Umgekehrt sind in der Form der Gruppenarbeit auch die Einzelmaßnahmen a) bis c) mit enthalten. Wenn im Folgenden das Leitbild der teilautonomen Gruppe dargestellt wird, erschließen sich die anderen Gestaltungsmaßnahmen auch als Teilschritte hin zu diesem weitest gehenden Gestaltungsziel. Unter teilautonomen Gruppen mit umfassenden Kompetenzen für Planung, Ausführung und Kontrolle in ihrem Arbeitsbereich sollen feste, als institutionelle Einheiten im Rahmen der Arbeitsorganisation verankerte Teams mit dauerhafter, partizipativer und weitgehend selbstständiger Bearbeitung einer Aufgabe verstanden werden. Entscheidend ist das qualitative Moment der (Teil-)Autonomie mit – je nach Ausprägungsgrad – selbstständiger Arbeitsplanung, -erledigung und -kontrolle. In Abgrenzung von einer Mogelpackung, bei der nur Beschäftigte räumlich zusammengesetzt werden, legen wir für Gruppenarbeit im Service Center folgende Kennzeichen zugrunde:
- Arbeiten fest (dauerhaft) als Gruppe zusammen,
- Die Gruppe ist eine eigenständige Einheit in der Unternehmenshierarchie,
- Sie erledigt/fertigt eine komplette Dienstleistung (Produkt) oder – realistischer – einen Teil davon,
- Sie bestimmt die Gestaltung des Arbeitsablaufs selbst (geringe Kontrolle von außen),
- Von außen: Definition von Grenzbedingungen(z.B. Ziele, Qualitätsstandards),
- Keine interne Hierarchie, aber i.d.R. ein Gruppensprecher, der vom Team gewählt wird.Aufgabe des Gruppensrechers ist es, Gruppenkonflikte zu moderieren,
- Bereichsleitung: Führung über Motivation und Zielvereinbarungen (z.B. Arbeitsqualität, Personalentwicklung) statt über Leistung und Kontrolle,
- Gruppenmitglieder verfügen - im Ideal – über die ganze Bandbreite der für das Aufgabenspektrum der Gruppe benötigten Qualifikationen.
Um teilautonome Gruppen zu entwickeln, sind verschiedene Wege und Einzelmaßnahmen möglich:
- Integration von Einsatzplanung, Zeitgestaltung, Disposition (Schichtplan, Pausen, Verteilung der Arbeitszeit in das Team),
- Wechsel von Telefonservice und nicht telefonorientierter Nachbearbeitung bzw. Sachbearbeitung,
- Integration von Fax-, E-Mail- und Briefbearbeitung, um sowohl unterschiedliche Puffer für Rückmeldung und Zeitflexibilität als auch zu Qualifikationsbedürfnissen zu erhalten,
- Rotation zwischen verschiedenen Qualifikationsniveaus, z.B. halbjährlich zwischen First und Second-Level, bis hin zur Integration,
- Zeitsouveränität bei der Aufgabenerledigung (z.B. durch frei wählbare Nachbearbeitungszeiten im Anschluss an die Telefonate),
- Wechsel von Arbeitsgängen,
- Einfluss auf Arbeitsabläufe (Standardisierung bremsen bzw. sinnvoll einrichten),
- Organisation eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) durch die Gruppenmitglieder,
- Realistische Leistungsvorgaben für die Gruppe.
Die oben dargestellten Merkmale können eine Hilfe zur Systematisierung und praktischen Umsetzung eines arbeitnehmerorientierten Leitbildes sein. Dabei werden die Gestaltungsspielräume erheblich von den Rahmenbedingungen beeinflusst. Für die Beschäftigten spielt die Gestaltung der Arbeitsorganisation sicherlich erst dann eine Rolle, wenn grundlegende Fragen wie gesicherte Arbeitsverhältnisse, dauerhafte Beschäftigung und angemessene Entlohnung geregelt sind.
Klaus Heß